Zwei Lausbuben in der Karibik

Zwei Lausbuben in der Karibik Teil 2
Leseprobe

Als wir alle Sachen gepackt und die Kinder geweckt bzw. schon auf dem Arm hatten, um nun doch mit der Kutsche von Felix dorthin zu schaukeln, fuhr der Nachbar bereits unten auf der Straße vor. Zum Glück hatte er sich doch noch eines Besseren besonnen. Auf der Fahrt in die Berge hatte diesmal auch Felix vergessen wo die Bremsen sind und die Reifen quietschten bei jeder Serpentine. Mit dem Sonnenaufgang kamen wir beim Klagehaus an.

Was hier abging, kann ich schwer beschreiben, weil ich es als Nordeuropäer wohl schwer nachvollziehen kann. Es kam mir wie Schauspielerei vor, wenn sich alle laut schreiend und heulend begrüßten. Alle hatten gewusst, dass er sterben würde und sich hier nur noch quälte. Es war kein Heulen oder ein „vor sich Hinweinen“, sondern ein lautes Schreien. „Ai papa!“, „Ai mama“, „Ai dio“. (Das „s“ von dios = Gott, wird immer verschluckt.)

Im Haus saßen ca. ein Dutzend Klageweiber und der Alte lag noch auf seinem Bett. Als Mercedes ihrer Mutter bei unserer Ankunft in die Arme fiel, heulten alle Weiber auf Kommando laut los. Mercedes schrie am lautesten. Es dauerte dann immer ca. 5 bis 15 Minuten, bis sich der ganze Haufen wieder beruhigt hatte. Je nachdem, ob ein entfernter Bekannter oder ein naher Verwandter neu dazu kam. An diesem Tag kamen schätzungsweise 200 bis 300 Personen vorbei.... Zum Glück kamen sie ab und zu auch im Rudel.

Auf die Spitze trieb es Oktavius, einer von Mercedes‘ Brüdern. Er wohnte eine Zeit lang mit seiner Freundin in dem Haus von Felix. Nur ein einziges Mal hatte er, mehr oder weniger gezwungener Maßen, mit uns zusammen den Alten besucht. Und wenn es darum ging Medikamente, Sauerstoff oder Lebensmittel für seine Eltern zu kaufen, hatte er sich immer fein heraus gehalten. Sein Gebrüll aber übertraf alle anderen um ein vielfaches. Das hätte ich, als ich das erste Geschrei der Klageweiber hörte, gar nicht mehr für möglich gehalten. Über eine halbe Stunde erfüllte sein Gebrüll die Berge. Und weil ihn dies so sehr anstrengte, entblößte er seinen Oberkörper indem er sich das Hemd weg riss.

Halb nackt umklammerte er nun mit Armen und Beinen den Sarg, der in der Zwischenzeit schon eingetroffen war. Am Höhepunkt seiner „Inszenierung“ ließ er sich laut kreischend von seinen Freunden aus dem Haus heraustragen. Wenn es nicht ein realer und ernster Hintergrund gewesen wäre und wenn keine wahrhaft traurigen Menschen anwesend gewesen wären, hätte ich laut Beifall geklatscht und voller Begeisterung „da capo“ geschrien. Die übertriebenen Gebärden im Ohnsorg-Theater sind nur blasse Andeutungen dagegen.

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Zurück zur Trauergemeinde. In der Küche, dem zweiten Häuschen, welches Wände aus geflochtenen Zweigen hat, damit der Rauch besser abzieht, kochten einige Frauen in einem Kessel (so groß wie der Zaubertrankkessel bei Asterix und Obelix) Reis mit Bohnen und gleichzeitig in einem zweiten riesigen Topf direkt daneben, über ein Dutzend Hähnchen auf einmal. Nachdem Max und ich gegessen hatten, machte ich mit ihm einen kleinen Ausflug zum nahe gelegenen Bach, zu der Stelle von der die Alten immer ihr Trinkwasser holten. Bisher dachte ich immer, diese Stelle sei nahe an der Quelle gelegen und weil ich annahm, dass sie leicht zu finden wäre, suchten wir sie. Nachdem wir aber ca. eine ganze Stunde herum geklettert waren und die Quelle noch immer nicht gefunden hatten, wollte Max zurück. Leider hatten mir die Frauen in der Küche nichts vom Concon übrig gelassen, sondern den Kessel zum Einweichen mit Wasser gefüllt. Concon ist der angebrannte Reis am Topfboden. Den esse ich immer gerne zwischendurch, so wie wir in Deutschland die Chips essen.

Felix vertraute mir an, dass der Alte, als er wusste, dass er sterben musste, sich noch einmal ein junges Mädchen zur Brust nahm und sie auch prompt schwängerte. Stolz hatte der Alte es vor seinem Tod noch allen gesagt. Felix zeigte mir dann feixend die Hochschwangere und machte mich darauf aufmerksam, wie missgünstig Mercedes und ihre Geschwister auf dieses Mädchen starrten. Sie hingegen stolzierte, ihren dicken Bauch lächelnd vor sich hertragend, zufrieden durch die Trauergemeinde.

Als Max und ich von unserem Spaziergang zurückkamen, bat mich Mercedes ein paar Fotos zu machen. Ich nahm die Kamera in dieser Nacht vorsichtshalber mit, falls sich weitere schöne Motive ergeben sollten. Für meine Fotos fing das Geheule dann aber wieder von vorne an. Und jeder stellte sich in seinem tiefen Schmerz so richtig schön in Pose. Es wurden herrliche Fotos, auf denen man das tiefe Leid eindrucksvoll und überzeugend sehen kann....

Die Kinder spielten im Gegensatz zu dieser Szene weiterhin im Dreck auf dem Lehmboden, als ob sie das alles gar nichts anginge, womit sie wahrscheinlich sogar Recht hatten. Nur Max wollte alles ganz genau wissen.

Max: „Was passiert, wenn man stirbt?“
„Warum sind alle so traurig?“
„Was geschieht mit der Leiche????“

Zwei Wochen zuvor hatten wir Andy bei den beiden Alten wieder abgeholt, nachdem er dort über 1 ½ Monate wohnte. Er hatte mit seiner Sicht der Dinge die Lage wohl am besten erkannt:

Andy: „Warum soll ich denn traurig sein? Der Alte jammert doch jetzt nicht mehr herum!“ Gegen Abend hievten sie den Sarg (die „Kiste“, wie sie hier immer sagten) auf die Ladefläche des Camionettas (Pick Up) von Mercedes` ältestem Bruder. Kurz vorher öffneten sie diese Kiste aber noch einmal, damit ich „schöne“ Fotos machen konnte und damit die Verwandten ihm noch einmal in den Zeh zwacken konnten. Jeder wollte ihn noch einmal antatschen und knuddeln.... „Hoffentlich geht bei der Entwicklung nichts schief“ dachte ich. Zum Glück wurden die Fotos aber wahre Gemälde.

Nachdem sich die „Trauernden“ dann eine halbe Stunde lang gestritten hatten, wer alles auf dem Camionetta mitfahren darf und für wen kein Platz mehr da war, setzte sich der Trauerzug endlich in Bewegung. Max und ich saßen im zweiten Auto, direkt hinter dem Camionetta. Der romantisch gelegene Bergfriedhof erwartete uns in etwa. 2 bis 3 Km Entfernung, mit einem offenen Loch für die Kiste.

Weil die insgesamt drei Autos aber zu schnell fuhren, kamen die Fußgänger der Trauergemeinde nicht mehr mit. Daraufhin gingen sie schon nach ca. 200m wieder zum Klagehaus zurück. Auf dem Gottesacker stellte die übrig gebliebene Trauergemeinde vor dem Loch stehend mit Entsetzen fest, dass die Grube keinesfalls der Tiefe des vorgeschriebenen Klafters entsprach. Sie sprachen von 7 Fuß, also 1,8m bis 2,1m. Das „Loch“ (das Wort „Grab“ hat hier ebenfalls keiner benutzt) war weniger als einen Meter tief. Es waren gerade mal 2 bis 2,5 Fuß, also ca. 60 cm. Und die Kiste mit dem Alten war ja schon 50 cm hoch! „Was machen?“ sprach Zeus.

Nachdem sich aber keiner fand der weiterbuddeln wollte, und sie über fünf Minuten nachdenklich um das zu flache Loch herum standen, hatte endlich einer den gewünschten Geistesblitz! Bei dem Mann leuchtete tatsächlich eine Glühbirne über seinem Kopf auf, genauso wie in den Comics. Und jeder konnte diese Glühbirne sehen! Er nahm einen langen Stock und maß die Länge der Kiste. Dann ging er zum Loch und stellte befriedigt fest, dass die Kiste von der Länge her ins Loch hinein passen würde. Und alle nickten zustimmend. Das gleiche wiederholte er mit der Breite. Und abermals waren alle sichtlich zufrieden, weil sie den Alten nun doch ohne Probleme verscharren konnten.

Die Trauerpredigt hielt ein anwesender evangelischer Pfaffe, der aus einer Bibel vorlas, die nur das Neue Testament, sowie die Psalme und die Sprüche beinhaltete.

Psalm:
103:15 Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Feld;
103:16 wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennt sie nicht mehr.

Das war auch schon die Predigt, denn mehr las er weder vor, noch sprach er weitere tröstende Worte zur Gemeinde und dann kam auch schon das obligatorische

Pfaffe: „Erde zu Erde, Asche zu Asche und Staub zu Staub.“

Zusammen mit dem „Amen“ hüpfte der Totengräber in die Grube und die Kiste wurde auch gleich hinterher geschmissen.

Bruder: „Halt! Halt! So geht das aber nicht! Ich bin baptistischer Pfarrer und ich muss auch noch etwas predigen!“, schimpfte Mercedes ältester Bruder.

Der Alte musste also wieder aus dem Loch heraus gehievt werden und auch der Totengräber kletterte wieder hoch. Jetzt fing der Bruder an zu predigen. Auch er las aus der Bibel vor:

1.Petrus:
1:24 Denn "alles Fleisch ist wie Gras und alle Herrlichkeit der Menschen wie des Grases Blume. Das Gras ist verdorrt und die Blume abgefallen;
1:25 aber des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit." Das ist aber das Wort, welches unter euch verkündigt ist.

Ich dachte, ich höre nicht richtig. Ich hörte nämlich genau das gleiche wie zuvor. Zuhause habe ich dann noch einmal in Ruhe nachgeschlagen, was die beiden Pfaffen von sich gegeben haben. Und erst dann begriff ich auch, warum sie das Gleiche gepredigt hatten. Dieses Bild von den verwelkten Blumen, mit welchen die Menschen verglichen werden, steht nämlich sehr häufig in der Bibel. Durch die Querverweise sind die Stellen leicht zu finden. Und dieses Bild steht fast immer im Zusammenhang mit den Worten „Lehm zu Lehm“ oder „Erde zu Erde“ usw. Es handelte sich also um eine „Standardpredigt“ für Beerdigungen.

Das „Staub zu Staub“ war gerade das zweite Mal verklungen, damit die Anwesenden die Leiche endlich wieder einbuchten konnten,

da flog der Alte in seiner Kiste bereits wieder in die Grube
- und dieses Mal mit einem Köpper!!!

Ich hätte vor Begeisterung laut brüllen können, so wie zuvor Oktavius. Wo war die versteckte Kamera? Was wir hier hautnah miterleben konnten war ja zehnmal besser als jede Seifenoper und immer noch viel besser als manch ein Oskar gekrönter Spielfilm!

Das Loch war so schnell wieder zugeschaufelt, dass gerade mal seine Alte die obligatorische Hand voll Dreck hinterher werfen konnte. Kein Wunder, wo doch die Kiste direkt unter der Oberfläche lag. Die Motive für die Fotos waren so ergiebig, dass ich am Ende der Beerdigung, als das Licht „ausgeknipst“ wurde, (hier geht die Sonne viel schneller unter als in Deutschland) den ganzen Film voll hatte. Das ganze Szenario endete ca. 16 Stunden nach dem Tod des Alten. Bei diesem Affenzahn kann ich die Zombigeschichten gut nachvollziehen, die es hier ja in unmittelbarer Nachbarschaft (Haiti liegt nur einen Steinwurf entfernt und ist die Hochburg des Voodoo) des Öfteren wirklich geben soll. Nicht einmal ein Doktor hatte den Tod des Alten bestätigt.

(Und als er aufwachte, war es dunkel um ihn herum...)

Felix stand dem ganzen Treiben absolut unbeteiligt gegenüber. Ich bin vielleicht ein Macho, aber er ist ein Trampeltier oder noch besser ausgedrückt: Eine „Emotionale Wildsau“! Seine Ziehmutter war noch nicht einmal drei Monate tot (damals war er wirklich am Boden zerstört) und nun konnte er mit Mercedes trotzdem nicht mitfühlen.

Als z.B. die Todesnachricht des Alten kam, setzten Felix und ich uns erst einmal in die Schaukelstühle seines Wohnzimmers und wollten Mercedes etwas Beistand leisten. Weil diese aber zunächst im Bett liegen blieb und still vor sich hin heulte, wurde Felix langweilig und er pfiff sie laut und ärgerlich an:

Felix: „Wo bleibt denn unser Kaffee? Wir unterbrechen extra unseren Schlaf für Dich um Dir Beistand zu leisten und dann bleibst du einfach faul im Bett liegen, kommst gar nicht hier her und kochst uns noch nicht einmal einen Kaffee!!!“

"Zwei Lausbuben in der Karibik Teil 1


"Zwei Lausbuben in der Karibik Teil 2"


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